Biophelie in der Farbgestaltung

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Gesundheitsfördernde Farbgestaltung erfordert vielschichtige Kompositionen

In der Gestaltung haben Inspirationen aus der Natur schon lange Konjunktur – und viel zu oft nur dekorativen Charakter. Farben und Motive aus der Natur allein schaffen noch keine natürliche Atmosphäre. Farbgestaltung kann viel mehr: Richtig eingesetzt schaffen Farben eine natürliche Atmosphäre, in der Patientinnen und Patienten schneller gesunden. Erfreulicherweise gewinnt das zugrunde liegende Prinzip der Biophilie neuerdings unter Betreibern und Gestaltern zunehmend an Bedeutung.

Biophilie und heilende Architektur

Der Psychoanalytiker Erich Fromm führte den Begriff Biophilie 1964 in seinem Buch „Die Seele des Menschen“ ein. Biophilie bedeutet demnach „Liebe zum Lebendigen“ oder „Liebe zum Leben“. Der Soziobiologe Edward O. Wilson stellte seine Theorie dazu 20 Jahre später vor. In „Biophilia“ schreibt er 1984: „Die Natur hält den Schlüssel zu unserer ästhetischen, geistigen, kognitiven und sogar spirituellen Zufriedenheit. Je enger sich die Menschen mit der Natur verbunden fühlen, desto besser.“

Im gleichen Jahr prägt der US-Architekturprofessor Roger Ulrich den Begriff der „heilenden Architektur“. Er veröffentlicht im Wissenschaftsmagazin „Science“ eine aufsehenerregende Studie. Ulrich konnte belegen, dass Patienten in Zimmern mit Aussicht auf eine natürliche Umgebung sich nach einer Operation schneller erholten. Zudem brauchten die Patienten mit Ausblick deutlich weniger Schmerzmittel als die Kontrollgruppe in Zimmern mit Blick auf eine Ziegelwand. Seitdem – nun mehr als 30 Jahre lang – untersucht Ulrich die Verbindung zwischen Natur und Medizin. Seine Arbeiten haben erheblich dazu beigetragen, die positive Wirkung von natürlicher Atmosphäre auf den Heilungsprozess zu belegen – und seine Ergebnisse sind in einer Vielzahl von internationalen Studien bestätigt worden.

Erst in der Summe der Nuancen entsteht Natürlichkeit

Was aber macht die Wirkung von naturnahen Atmosphären bzw. natürlicher Farbgestaltung auf die Gesundung aus? Hier lohnt sich ein genauer Blick. Die eingangs erwähnten Farben aus der Natur alleine schaffen noch keine natürliche und gesundheitsfördernde Atmosphäre. Das hat einen einfachen Hintergrund: Reine Farben wirken in der Regel künstlich, weil sie ihren natürlichen Vorbildern nur zu entsprechen scheinen. Tatsächlich finden sich Farben in der Natur nur sehr selten rein und monochrom. Natürlicherweise sind Farben in der Natur gebrochen, vielfach vermittelt – Natur ist also fast immer polychrom.

  Das Blütenblatt (siehe Bild) beispielsweise hat bei genauer Betrachtung keine eindeutige Farbe. Die Oberflächenstruktur ruft eine Vielzahl von Lichtbrechungen mit einer kaum zu benennenden Anzahl von Farbnuancen hervor. Als Betrachter nehmen wir die Summe der Nuancen wahr – zunächst ein Rosa. Je nach Blickwinkel aber entstehen immer neue Nuancen und Farbklänge. Erst diesen natürlichen dauernden Wechsel empfinden wir als angenehm. Es scheint, dass sich unsere Augen evolutionär über Jahrtausende an diese Vielschichtigkeit der farblichen Oberflächen in der Natur gewöhnt haben.

Die wesentliche Erkenntnis lautet also: Erst die feinen Nuancen und ihre Vielfältigkeit erzeugen einen natürlichen Farbklang. Einfarbig gestrichene Wände haben kaum Nuancen und Farbspiel. Ohne das feine Wechselspiel aber reagieren Menschen bei längerer Betrachtung mit Erschöpfung.

Mit durchdachten Farbkonzepten natürliche Atmosphäre schaffen

Eine gelungene gesundheitsfördernde Farbgestaltung muss also zwingend das fein nuancierte Zusammenspiel verschiedener Farbtöne aus der Natur herstellen. Ein Farbton führt, andere Töne begleiten. Es ist ähnlich wie einem Orchester: Erst die verschiedenen Töne und Instrumente ergeben einen harmonischen Gesamtklang.

In Räumen mit längerer Verweildauer übernehmen idealerweise eher zarte, verhülltere  Farben die Führung, in Räumen mit kürzerer Verweildauer können vereinzelt kräftige Töne dazukommen. Sofern die Gestaltung die Töne sorgfältig aufeinander abstimmt, bilden so auch monochrome Flächen mit verschiedenen, benachbarten Tönen einen naturhaften Nuancenreichtum. Besonders gut geeignet sind Farben mit einem hohen Pigmentanteil. Farben mit natürlichen Pigmenten ermöglichen lebendigere Oberflächen, da sich das Licht anders brechen kann.

Natürliche Effekte durch mehrschichtige Wandlasuren

Wandlasuren in einem mehrschichtigen Aufbau sind eine andere Möglichkeit, um lebendige Oberflächen zu kreieren. Der natürliche Effekt entsteht, wenn die Farbpigmente der einzelnen Lasurschichten sich an der feinen Körnigkeit des Untergrundes ablagern können. So bleiben die einzelnen Farben unvermischt erhalten. Nur aus unmittelbarer Nähe aber sind sie als solche zu erkennen. Aus dem Abstand betrachtet vermischen sie sich hingegen zu einem Gesamteindruck, der natürlichen Oberflächen sehr nahekommt. Je nach Licht und Blickrichtung entstehen durch Lasurtechniken immer wieder neue Farbklänge, die den natürlichen Sehgewohnheiten besonders gut entsprechen. So gestaltete Oberflächen wirken anregend ohne zu überfordern.

Fazit: Nuancenreichtum bei gleichzeitiger Überschaubarkeit und Eindeutigkeit

Naturähnliche Farbgestaltung besteht darin, ein harmonisches Zusammenspiel von spannungsreichen Nuancen herzustellen, die unser Wahrnehmungssystem herausfordert ohne es zu überfordern. Naturnahe Atmosphären tragen zu Wohlbefinden und schnellerer Gesundung von Patienten bei.

Farbe ist EIN wichtiger Aspekt bei der Gestaltung von gesunden Umwelten und Atmosphären. Die Farbgestaltung kann jedoch nicht losgelöst vom Raumgefüge gesehen werden. Nicht nur die Frage „Welcher Farbton“ ist relevant, sondern, ganzheitlicher betrachtet, die Frage „Welche Atmosphäre will ich erzeugen?“

Die Autorin

Simone Ferrari arbeitet als Innenarchitektin und Referentin im Themenfeld Farbe und Farbgestaltung

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